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COVID-19 – Wie Jeder Einzelne Fehler und Ablenkung durch Nachlässigkeit reduzieren kann

Anthony ging gerade zurück in sein Büro, wo er den Großdruck auf seinem Schreibtisch ablegte. Erst dann fiel ihm auf, was er gerade getan hatte, und es traf ihn wie ein Hammerschlag. Drei Gedanken schossen innerhalb weniger Sekunden durch seinen Kopf. Warum nur hatte er nicht ein paar Minuten früher an all das gedacht? Was war passiert? Er brauchte einen Ausdruck aus dem großen Drucker. Die Arbeiten in seiner Firma wurden als systemrelevant eingestuft, das Unternehmensbüro war also offen. Allerdings war niemand oder zumindest kaum jemand vor Ort. Sie alle arbeiteten von zu Hause aus. Aber Anthony war jeden Tag da.

Er verantwortete den COVIDReaktionsplan seiner Firma weltweit, und dies war die siebte Epidemie, bei der er diese Funktion innehatte. Wenn er also durch den Flur ging, ohne eine Maske oder Handschuhe zu tragen, dann lag es nicht daran, dass er es nicht besser wüsste. Als nächstes dachte er: „Zum Glück hat mich keiner gesehen!“ Und sein dritter Gedanke war: „Was, wenn ich meine Schutzkleidung bei der Pressekonferenz vergessen hätte, als ich aus der Limousine ausgestiegen bin?“ Diese drei Gedanken gingen ihm innerhalb von Sekunden durch den Kopf. Das sagte er mir zumindest. Anschließend musste er alle Türgriffe desinfizieren, genauso wie die Tastatur und die Außenseiten des Druckers, das Ausgabefach, wo er es berührt hatte, um den Druck herauszunehmen, was noch? Der innere Türknauf.

Diese Überlegungen dauerten deutlich länger als zwei Sekunden und es ging um einen nicht unerheblichen Aufwand – und all das nur, um einen kleinen Fehler zu beheben. Als er dann die Geschichte an einer großen lokalen Veranstaltung vor einem Publikum erzählte, in dem ungefähr 500 Sicherheitsexperten saßen, hatte er eine bestimmte Botschaft an sie: Selbst wenn man nicht die Augen vor den Tatsachen verschließt, und selbst wenn man eine Menge Erfahrung hat, kann man immer noch Fehler machen. Und es ist wie immer im Bereich Sicherheit und Gesundheitsschutz: Es ist immer einfacher, billiger, schneller und einfach besser, einen Vorfall bereits im Vorfeld zu vermeiden als ihn im Nachhinein zu korrigieren. Und bei COVID ist der Fall klar: Wenn sich jemand infiziert und stirbt, dann gibt es keine Möglichkeit mehr, den Fehler zu beheben. Bei einem Webinar, das ich vor Kurzem moderierte, gab es zwei weitere Expertenvorträge und auch sie berichteten von Fehlern und Beinahe-Kontakten.

Wie bei Anthony war es auch bei ihnen nicht so, dass sie es nicht besser gewusst hätten oder die aktuelle Situation verleugnen würden, sondern sie machten einfach einen Fehler. Die Techniken zur Reduzierung kritischer Fehler hätten alle drei dieser Fälle verhindern können, von denen wir berichteten. Doch bevor wir näher auf die Techniken eingehen, schauen wir uns zunächst diese Ablehnungshaltung an, die viele Leute haben. Denn es ist ganz natürlich oder zumindest eine allgemeine Tendenz der Menschen, nicht an eine Veränderung glauben zu wollen, vor allem, wenn sich etwas zum Schlechteren entwickelt. Dementsprechend wünschen sie sich, dass alles wieder so wird, wie es war.

Das heißt im Endeffekt, dass sie sich nicht verändern wollen – denn das würde bedeuten, dass sie „akzeptieren“ würden, dass sich die Dinge tatsächlich verändert haben! Doch es gibt einen Haken: die Dinge haben sich tatsächlich verändert. Es ist vergleichbar mit dem 11. September. Dieser Tag hat Flugreisen auf der ganzen Welt verändert, höchstwahrscheinlich für immer. Auch dieser Virus hat die Welt verändert, jedenfalls bis wir einen Impfstoff haben (was vielleicht 2021 passieren wird). Zwar ist es ganz normal, etwas nicht wahrhaben oder abzustreiten zu wollen, doch im Fall einer Epidemie ist es sehr gefährlich, diesen Standpunkt zu vertreten. Denn es ist eine Sache, bei der eigenen Gesundheit nachlässig zu sein. Es ist etwas ganz anderes, jemanden um Verzeihung bitten zu müssen, weil man selbst oder das eigene Kind die Person angesteckt hat. Doch warum reden wir über Nichtwahrhabenwollen? Es hat einfach keinen Sinn, den Menschen beibringen zu wollen, wie sie eine versehentliche Virusübertragung vermeiden können, wenn man ganz genau weiß, dass sie sich noch nicht einmal die Mühe machen werden, sich öfter die Hände zu waschen.

Und diese Gewohnheit ist nur ein Beispiel. Und an sicherheitsrelevanten Gewohnheiten zu arbeiten ist nur eine der vier Techniken zur Reduzierung kritischer Fehler, die die Leute brauchen werden, um das Virus im persönlichen Alltag zu bekämpfen. Fangen wir direkt mit „An Gewohnheiten arbeiten“ an. Der Gedanke dahinter ist, dass man nicht verhindern kann, dass man durch Selbstüberschätzung, Routine oder Nachlässigkeit abgelenkt wird. Wir haben schnell den Kopf nicht bei der Sache, wenn wir eine Aufgabe, eine Tätigkeit oder den Heimweg gut (genug) kennen. Schweifen die Gedanken ab, schaltet das Verhalten auf „Autopilot“ um, beziehungsweise man tut Dinge aus Gewohnheit und unbewusst. Wenn wir also nicht genau darüber nachdenken, was wir tun oder welches Risiko damit einhergeht, greifen eingeschliffene oder gewohnte Verhaltensweisen (wie zum Beispiel den Sicherheitsabstand auf der Autobahn einzuhalten).

Eines von zwei Szenarien wird eintreten: 1. Es gibt eine zweite Welle – und einen weiteren Lockdown. 2. Es gibt eine zweite Welle – und viele Menschen werden sterben. Das war’s leider schon: Es gibt nur diese beiden Optionen. Die Verleugnung der Tatsachen wird also hoffentlich kein „kulturell unüberwindbares Hindernis“ bleiben. Nichts ist unmöglich. Natürlich kann es auch sein, dass Ihre Leute bereit sind, sich die Mühe zu machen, oder Sie müssen sie davon überzeugen – ganz einfach weil Sie sich keinen (weiteren) Ausbruch an einem Ihrer Standorte leisten können. In diesem Fall ist es der beste und womöglich effizienteste Ansatz überhaupt, Ihre Belegschaft dazu zu bringen, alles daran zu setzen, die eigenen Gewohnheiten zu verbessern. Und es gibt nützliche Strategien, die dabei helfen können, neue Verhaltensweisen wie häufigeres oder gründlicheres Händewaschen zu „provozieren“.

Insbesondere visuelle Erinnerungen können eine große Hilfe sein, beispielsweise kleine Poster oder Dachaufsteller neben dem Waschbecken, wo die Leute sie sehen können. Eine weitere hilfreiche Technik ist die Fähigkeit des Self-Triggering in einem bestimmten Zustand (wie etwa Hektik), um keinen kritischen Fehler zu machen. Unsichtbare Gefährdungen wie Viren können wir ja nicht sehen, daher helfen unsere Reflexe uns nicht weiter. Das bedeutet, dass es umso wichtiger ist, den Kopf bei der Sache zu behalten. Jedoch können menschliche Faktoren oder Zustände wie Hektik, Frustration und Müdigkeit dazu führen, dass wir den Kopf eben nicht mehr bei der Sache haben. Das passiert umso leichter, wenn in einer Situation gewissermaßen „grundsätzlich ein wenig nachlässig“ sind. Im Gegensatz zu Selbstüberschätzung ist uns allerdings bewusst, dass wir es eilig haben oder dass wir frustriert oder müde sind. Deshalb ist es auch viel einfacher, diese Zustände zu erkennen. Sobald uns bewusst wird, dass wir hektisch sind oder schneller fahren oder mehr Dinge auf einmal machen als sonst, dann müssen wir das Self-Triggering einsetzen, wieder zum Moment zurückkommen und darüber nachdenken, was wir gerade tun. Behalten Sie die Augen bei der Sache, denken Sie an die Gefahrenzone und mögliche Faktoren, die dazu führen könnten, dass Sie das Gleichgewicht verlieren.

Es geht darum, dies zu beherrschen: Das Self-Triggering muss schnell genug ablaufen, sodass Sie kritische Fehler vermeiden können, ob Sie nun in die Gefahrenzone geraten oder irgendwie Ihr Gleichgewicht verlieren könnten. Die Technik des Self-Triggering in Kombination mit dem Arbeiten an Gewohnheiten hätte vermutlich einen Großteil der Verletzungen verhindert, die Sie jemals hatten (das gilt auch für mich und nahezu jede andere Person). Das Konzept des Self-Triggering ist einfach zu verstehen, nur leider umso schwieriger, im entscheidenden Moment anzuwenden. Doch es ist möglich, indem Sie intensiv trainieren, um in der Lage zu sein, schnell genug wieder zum Moment zurückzukommen und einen kritischen Fehler zu vermeiden. Kevin Cobb, einer der ersten SafeStart-Berater, hat es sehr treffend zusammengefasst: „Zu wissen, dass Hektik ein Risiko ist, ist keine große Kunst. Zu wissen, dass Hektik ein Risiko ist, während man hektisch ist – das ist wirklich Kunst!“ Das belegen inzwischen auch neurowissenschaftliche Erkenntnisse. Doch der Punkt ist: Es ist nicht so einfach, wie es scheint. Es erfordert Training und Übung. Es ist zwar nicht ganz so langweilig wie das kleine Einmaleins oder Lernförderprogramme (Kumon), aber es geht auf dasselbe Prinzip zurück: Wir wiederholen es, bis wir einen Reflex haben oder reflexartig antworten können, wie zum Beispiel auf die Frage „Was ist 3 mal 4?“.

Coaching im Sportbereich macht sich dasselbe Prinzip zunutze. Zahlreiche chemische Botenstoffe werden im Gehirn ausgeschüttet, wenn man hektisch, frustriert oder müde ist – und es gibt Momente, in denen alle drei zusammenkommen, beispielsweise nach einem langen Arbeitstag auf dem Heimweg zur Rushhour und wenn man pünktlich zum Abendessen zu Hause sein sollte. Diese Faktoren unter Kontrolle zu halten erfordert Training und Übung. Self-Triggering und das Arbeiten an sicherheits- und gesundheitsrelevanten Gewohnheiten reichen jedoch nicht aus. Im Falle von Hektik, Frustration und Müdigkeit ist Self-Triggering sehr hilfreich, doch es ist schwierig, es zu erkennen, wenn wir uns selbst überschätzen – in dem Fall kommen wir hier nicht weit. Die Arbeit an den eigenen Gewohnheiten macht einen wichtigen Unterschied, wenn man aufgrund von Nachlässigkeit den Kopf nicht bei der Sache hat. Doch es ist immer besser, gedanklich bei der aktuellen Tätigkeit zu sein, denn dadurch verkürzt sich die Reaktionszeit enorm. Bei COVID ist es allerdings so, dass wir wirklich daran denken müssen, bevor wir zu nah herantreten oder etwas berühren, was wir nicht berühren sollten, oder bevor wir uns ins Gesicht fassen. Es wäre also sinnvoll, den Leuten helfen zu können, gedanklich zum Moment zurückzukehren. An dieser Stelle kommt die dritte Technik ins Spiel. Denn wenn Sie bei anderen das (Zustand-Fehler-)Muster beobachten, das das Verletzungsrisiko erhöht, oder wenn Sie ein erhöhtes Risiko bemerken (jemand hustet, jedoch nicht in den Ellenbogen), dann werden Sie an Ihr eigenes Risiko denken.

Das wiederum genügt vermutlich als Erinnerung an all die notwendigen Dinge wie das Tragen von Masken und Handschuhen. Mit dieser Technik halten Sie also Ausschau nach dem Zustand-Fehler-Risiko-Muster, und das erweist sich als große Hilfe, wenn Hektik, Frustration oder Müdigkeit nicht sehr stark ausgeprägt sind, Sie jedoch gleichzeitig nachlässig werden und dadurch abgelenkt werden. Mit der letzten Technik geben Sie Ihren Mitarbeitenden die Möglichkeit, sich fortlaufend zu verbessern, ohne Lehrgeld bezahlen zu müssen. Denn es wird immer mehr potenzielle Kontakte mit der Krankheit geben als tatsächliche Kontakte; mehr Kontakte als Infektionen, und zum Glück auch mehr Infektionen als Todesfälle. Wenn man sich das als Pyramide vorstellt, ist der einfachste, beste und billigste Ansatz, sich das unterste Level der Pyramide anzusehen – um eben nicht teuer bezahlen zu müssen. Jeder Einzelne von uns kann auf Beinahe-Unfälle beziehungsweise -Kontakte achten, also all die Dinge, die wir nicht berühren sollten und doch angefasst haben und so weiter. In welchem Zustand haben wir uns befunden? Falls wir hektisch, frustriert oder müde waren, dann sollten wir beim nächsten Mal das Self-Triggering (noch schneller) anwenden.

Doch wenn wir abgelenkt waren, weil wir uns selbst überschätzten, dann sollten wir wohl weiter an einer sicherheits- oder gesundheitsrelevanten Gewohnheit arbeiten. Oder wir sollten andere aufmerksamer beobachten und nach Risikomustern Ausschau halten. Wenn Sie zum Beispiel sehen, wie jemand in die Hand nießt und dann etwas anfasst, dann wird Sie das daran erinnern (und motivieren), diesen Gegenstand eben nicht berühren. Beim Umgang mit unsichtbaren und ansteckenden Gefährdungen wie Viren werden die vier Techniken zur Reduzierung kritischer Fehler allerdings nicht ausreichen. Sicherungssysteme und andere Optimierungspunkte bieten weitere Möglichkeiten, insbesondere im Zusammenhang von BeinaheKontakten und -Unfällen.

Es besteht auch ein großer Bedarf an „bewusster Übung“, sodass all diese Fähigkeiten und Gewohnheiten so schnell wie möglich erlernt, angeeignet und angewandt werden können. Doch dazu an anderer Stelle mehr. Die vier Techniken zur Reduzierung kritischer Fehler und der richtige Umgang mit Menschen, die die aktuellen Tatsachen abstreiten, sind bereits eine Menge Input, den es zu umzusetzen gilt. Zudem werden wir in ein paar Wochen viel mehr wissen, schließlich verändert sich die Lage jeden Tag. Doch die Situation ist nun einmal so, dass sich die Dinge nicht so bald wieder normalisieren werden. Das heißt leider, dass wir auch dann noch damit zu tun haben werden. Das wiederum bedeutet, dass wir umso mehr Methoden oder mehr Waffen benötigen werden, um dieses Virus zu bekämpfen und für unsere eigene Sicherheit zu sorgen. Ich hoffe, dass dies Ihnen bereits weiterhilft.