Viele Unternehmen beschäftigen sich im Rahmen von Schulungen mit dem Thema „Human Factor“. Doch welchen Nutzen ziehen sie daraus?
Vor kurzem führte ich darüber ein Gespräch mit dem Sicherheitsdirektor eines globalen Pharmakonzerns (rund 7000 Mitarbeiter), das in etwa folgendermaßen ablief:
„Selbstverständlich beschäftigen wir uns damit“, versicherte mir mein Gesprächspartner, während wir schnellen Schrittes durch eine Messehalle eilten. „Wir organisieren diverse Schulungen rund um das Thema Human Factor.“
„Und was genau vermitteln Sie dabei Ihren Mitarbeitern?“, fragte ich ihn.
„Wir weisen auf Probleme hin, die durch Hektik, Müdigkeit, Stress und ähnliche Faktoren entstehen – aber damit kennen Sie sich ja bestens aus“, antwortete er.
„Sie empfehlen Ihren Mitarbeitern also, nicht in Hektik zu verfallen?“
„So ist es.“
„Und wie ist es gerade um uns bestellt?“, fragte ich lächelnd.
„Ach, was will man machen“, seufzte er. „Ich habe ein Meeting um eins und kann nicht auf den Shuttleservice warten.“
„Aber durch das Gerenne sind wir doch auch in Hektik geraten“, warf ich ein.
„Das stimmt wohl. Wie bereits gesagt, beginnt nur leider gleich ein Meeting, das meiner Leitung untersteht.“
„Obwohl Sie also wissen“, hakte ich nach, „dass Hektik zu Problemen führen kann, und obwohl Sie verschiedene Schulungen zum Thema Human Factor absolviert haben, hetzen Sie sich ab, um nicht zu spät zu einem Meeting zu kommen?“
„Vielleicht sollten wir den Menschen Werkzeuge zur Viele Unternehmen beschäftigen sich im Rahmen von Schulungen mit dem Thema „Human Factor“. Doch welchen Nutzen ziehen sie daraus? Hand zu geben, damit sie lernen, effektiver mit Hektik, Frustration, Müdigkeit oder Selbstüberschätzung umzugehen. Vielleicht reicht es nicht, nur auf daraus resultierende Probleme hinzuweisen und Mitarbeitern zu sagen: Rennt einfach nicht, wenn ihr in Eile seid; ärgert euch nicht, wenn Komplikationen auftreten; überschätzt euch nicht selbst und werdet nicht müde“, merkte ich an.
„Wie meinen Sie das?“, fragte mich der Direktor.
Ich reichte ihm daraufhin eine Karte und erklärte ihm in knapp drei Minuten die vier Techniken, die zu einem besseren Umgang mit den genannten vier Gefühlszuständen führen.
„Interessant“, nickte mein Gesprächspartner anerkennend. „Davon werde ich mal meinen Kollegen erzählen.“
Informieren allein reicht nicht
Mal angenommen, man könnte Hektik, Frustration, Müdigkeit und Selbstüberschätzung komplett aus dem Arbeitsalltag verbannen, dann fehlt mir immer noch jede Vorstellung, wie man das in absehbarer Zukunft etwa im Straßenverkehr bewerkstelligen soll. Wie viele Menschen glauben wirklich, dass es genügt, ein Problem lediglich zu benennen? Wahrscheinlich sind es dieselben, die auch denken, es genüge, jemanden über ein Risiko aufzuklären.
Natürlich ist es kaum verkehrt, Menschen über Risiken und menschliche Fehler zu informieren – es reicht jedoch nicht aus. Wissen allein verhindert keine Unfälle und Fehler. Tatsächlich sind nur ein bis zwei Prozent aller Verletzungen auf mangelndes Know-how zurückzuführen.
Dagegen ist allgemein bekannt, dass Hektik, Frustration, Müdigkeit und Selbstüberschätzung zu einer Vielzahl von Unfällen führen. Die meisten von uns haben diese Erkenntnis nicht in Firmenschulungen gewonnen. Vielmehr ist sie das Resultat eines lebenslangen Lernprozesses – inklusive all der Kratzer, Schrammen und Knochenbrüche, die wir seit unserer Kindheit davongetragen haben. Hektik, Frustration, Müdigkeit und Selbstüberschätzung sind die Ursache von 98 bis 99 Prozent aller schweren Verletzungen. Jetzt sind Sie gefragt: Was können Sie in Ihrem Unternehmen dagegen tun? Selbstverständlich genügt es nicht, darauf zu setzen, dass höhere Mächte Ihre Mitarbeiter verschonen. Es wäre Ihrer Karriere wohl eher abträglich, wenn Sie Ihrem Chef vorschlagen würden, alle Mitarbeiter mit einem Schutzamulett samt eingraviertem Firmenlogo auszustatten, um die Zahl der Arbeitsunfälle endlich in den Griff zu bekommen …

Techniken und Fertigkeiten
Es gibt einen Weg, wie Sie den negativen Einfluss der menschlichen Fehler erheblich reduzieren können. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass nicht jeder Fehler gravierende Folgen haben muss. Oft kosten sie uns einfach nur Zeit und Geld oder bringen uns in eine missliche Lage. Kritische Fehler hingegen zeichnet aus, dass sie uns in eine besonders gefährliche Situation versetzen. Es gibt vier kritische Fehler, die direkt oder indirekt mit 98 bis 99 Prozent aller schweren Verletzungen zusammenhängen – ob auf der Arbeit oder in anderen Lebensbereichen:anderen Lebensbereichen:
1. Augen nicht bei der Sache.
2. Kopf nicht bei der Sache.
3. In die Gefahrenzone geraten.
4. Das Gleichgewicht verlieren.
Allein über diese Fehler zu informieren, reicht nicht aus, um sie zu verhindern. Wenn wir jedoch die Fehler mit den vier zuvor genannten Gefühlszuständen in Verbindung setzen, können Menschen nachhaltig davon profitieren.
Wie erwähnt, tragen die vier Zustände direkt oder indirekt zu 98 bis 99 Prozent aller schweren Verletzungen bei – ob TECHNIKEN UND FERTIGKEITEN bei der Arbeit oder in anderen Lebensbereichen. Einem dieser emotionalen Zustände geht also fast immer einem Fehler voraus und wäre somit ein wichtiges Warnsignal. Im Klartext heißt das: Immer wenn Sie in Eile, müde oder frustriert sind, denken Sie daran: Augen bei der Sache, Kopf bei der Sache, die Gefahrenzone verlassen und das Gleichgewicht nicht verlieren.
In der Mehrzahl der Fälle reicht es bereits aus, an die vier Zustände zu denken, um Unfälle zu verhindern. Diese Technik des „persönlichen Risikomanagements“ muss zunächst verinnerlicht werden, bevor sie wirkungsvoll zur Fehlerprävention beiträgt. Mit ein bisschen Anstrengung können die meisten von uns sie innerhalb kurzer Zeit erlernen. Das setzt aber zumindest eine ausreichend starke Motivation voraus.
Anzeichen von Hektik, Frustration und Müdigkeit sind relativ einfach zu erkennen. Etwas anders sieht die Situation im Fall des vierten Gefühlszustands aus, der Selbstüberschätzung. Sie ist nicht so leicht zu entdecken.
Mit Selbstüberschätzung ist jeder konfrontiert, der einer Aufgabe mit bestimmter Regelmäßigkeit nachgeht. Wenn wir etwas zum ersten Mal tun, sind die damit verbundenen Risiken und Gefahren noch stärker präsent. Wenn wir Abläufe zum hundertsten oder tausendsten Mal abspulen, treten Risiken in den Hintergrund, und unsere Gedanken schweifen ab. Jedem von uns ist das schon passiert. Deshalb müssen wir unseren Mitmenschen klarmachen, dass Aufgaben, die wir wiederholt ausführen, nicht automatisch sicherer werden und wir dabei nicht immer unseren „Kopf bei der Sache“ haben.
Wenn Sie im Straßenverkehr beispielsweise aktiv versuchen, zu einem Auto vor Ihnen einen festen Sicherheitsabstand zu halten, dann sorgt Ihr Unterbewusstsein dafür, dass Sie weiter denselben Abstand einhalten, auch wenn Ihre Gedanken abschweifen. Das gleiche gilt für die Einhaltung von Tempolimits: Selbst wenn Sie an etwas anderes denken, werden in der Regel keine Geschwindigkeitsabweichungen von mehr als 15 bis 20 km/h auftreten. Geschwindigkeitsabweichungen von mehr als 15 bis 20 km/h auftreten.
Der Selbstüberschätzung den Kampf Ansagen
Indem man seine Gewohnheiten einer Probe unterzieht, beugt man der eigenen Selbstüberschätzung vor und vermeidet es, mit dem „Kopf nicht bei der Sache“ zu sein. Auch davon abgesehen sollte man seinen gedanklichen Fokus möglichst immer auf die aktuelle Aufgabe legen – insbesondere, wenn diese ein hohes Risikopotenzial birgt. Durch ein hohes Maß an Achtsamkeit können Sie unmittelbare Gefahrensituationen zuverlässiger vorhersehen. Gute Gewohnheiten und Reflexe genügen nicht immer, um einer Gefahr zu entgehen. Das gilt vor allem dann, wenn andere Personen Sie mit Fehlern in Bedrängnis bringen.
Um Selbstüberschätzung zu bekämpfen, müssen Sie kontinuierlich achtsam bleiben. Damit einhergehen sollte eine Sensibilisierung, die genannten Risikofaktoren auch bei anderen zu erkennen (siehe Abbildung 1). DER SELBSTÜBERSCHÄTZUNG DEN KAMPF ANSAGEN Immer wenn Ihnen ein gestresster Autofahrer begegnet, der ohne Vorankündigung die Spur wechselt und dabei wild gestikulierend telefoniert, sollten Sie zugleich Ihr eigenes Verhalten hinterfragen.
Wenn Sie hingegen mit grober Fahrlässigkeit konfrontiert sind (beispielsweise einem Fahrer, der bei 110 km/h SMS Nachrichten schreibt), reicht Nachdenken allein oft nicht mehr aus. Wahrscheinlich würden Sie versuchen, die Gefahrenzone zu verlassen, indem Sie langsamer oder schneller fahren. Wie erfolgreich man diese neue Fertigkeit anwendet, hängt wie gesagt in erster Linie davon ab, mit welchem Nachdruck man sie umsetzt.
Wenn Ihnen also in Zukunft ein kritischer Fehler unterläuft – selbst wenn dieser nur einen Beinahe-unfall oder eine kleine Blessur zur Folge hat, fragen Sie sich jedes Mal: „Wurde der Fehler durch einen persönlichen Gefühlszustand wie Hektik, Frustration oder Müdigkeit bedingt, den ich nicht rechtzeitig erkannt habe? Oder ist er meiner Überheblichkeit geschuldet, derentwegen ich meine ‚Augen und Gedanken nicht bei der Sache‘ hatte und so einen weiteren kritischen Fehler wie ‚nicht die Gefahrenzone verlassen‘ begehen konnte?“
Beinaheunfälle und kleine Fehler zu analysieren, statt sie zu ignorieren – nur so können wir uns kontinuierlich verbessern und auf Fertigkeiten und Gewohnheiten aufmerksam werden, die wir noch perfektionieren müssen.

Titel: Der Faktor Mensch
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Autor:Larry Wilson
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Dateityp:PDF
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Dateigröße:269 kB
