Der Titel dieses Artikels entstand während eines Arbeitsessens mit dem Direktor für Schulungen und Mitarbeiterentwicklung eines sehr großen Bauunternehmens. Er sprach darüber, ein Trainingsprogramm speziell zur Reduzierung von menschlichem Versagen in der Baubranche zu entwerfen. „Sie haben ‚menschliches Versagen decodiert’, zumindest für Produktionsunternehmen, aber wenn es in der Baubranche keiner versteht, hilft das auch keinem Bauarbeiter“, meinte er.
Ich musste ihm zustimmen, und wir vereinbarten, einen anderen Schulungsplan und ein anderes Lerndesign zu entwickeln, um diese Konzepte in der Baubranche einfacher vermitteln zu können.
Nachdem er mich dazu gebracht hatte, mit ihm diese Idee zu verfolgen, verstummte er und sah mich an. Dann lehnte er sich vor und fragte mit leiser, vertraulich klingender Stimme „Wie haben Sie das geschafft? Wie haben Sie es herausbekommen? Ich beschäftige mich seit über 30 Jahren mit nichts Anderem als Sicherheit, Schulungen und Geschäftsentwicklung, und ich habe so etwas noch nie gesehen… ich meine… (Pause) Sie sind ja kein MENSCHLICHES FEHLVERHALTEN DEKODIERT Wissenschaftler oder so. Also wie haben Sie es gemacht?“
„Tja“, gab ich zurück, „es ist recht einfach zu erklären, wenn Sie Begriffe verwenden, die die meisten nicht richtig verstehen. Und dann ist es auch schnell zu erklären.“
Die echte Version dauert etwas länger.
Er sah auf seine Uhr. „Ok, versuchen wir es mit der Kurzversion“, antwortete er.
„Die Kurzversion handelt von zehn Schritten oder Entdeckungen, die nicht alle geplant waren. Die erste Entdeckung war einer dieser unerwarteten Einfälle, die ich auf Schulungen manchmal habe.
Auf dieser Schulung 1989 wurde mir klar, dass bei der Verletzung der eigenen Person in über 95% der Fälle jeweils eine von nur wenigen Gründen die Hauptursache war.
Der zweite Schritt bestand darin, Leute zu überzeugen, sich die wahren Gründe hinsichtlich der Verletzung der eigenen Person einzugestehen und diese offen mitzuteilen; vor allem aber auch mitzuteilen, in welchem Ausmaß das „menschliche Fehlverhalten“ dazu beitrug.
Der dritte Schritt war eine ParetoAnalyse von Checklisten kritischen Verhaltens zu erstellen (auf Basis einer vorherigen ParetoAnalyse von verschiedenen Arten von Verletzungen), um die vier hauptsächlichen Fehler zu ermitteln.
Danach kehrten wir das ABCVerhaltensmodell um, um unabsichtliches oder fehlerhaftes Verhalten widerzuspiegeln.
Daraufhin interviewte ich Hunderte Arbeiter zum Thema positive Devianz an hochriskanten Arbeitsplätzen.
Auf dieser Basis führte ich eine weitere Pareto- Analyse über die menschlichen Faktoren durch, um vier anschließend Zustände oder sogenannte psychologische Aktivatoren zu identifizieren, die täglich auftreten. Dieses Risikomuster testete ich an 20.000 Personen.
Im folgenden Schritt wurden die Techniken zur Reduzierung kritischer Fehler (Critical Error Reduction Techniques, CERTs) entwickelt. Grundlage hierfür waren die Risikomuster und unsere Erfahrung aus der Umsetzung verhaltensbasierter Sicherheitsprozesse. Im Anschluss haben wir die CERTs in verschiedenen Unternehmen unterschiedlicher Branchen getestet.
Auf dieser Schulung 1989 wurde mir klar, dass bei der Verletzung der eigenen Person in über 95 % der Fälle jeweils eine von nur wenigen Gründen die Hauptursache war.
Es geht hier also um eine sehr unwissenschaftliche Reise in die Welt der Sicherheit und menschlichen Fehlverhaltens.
Und daraufhin haben wir das Schulungsprogramm erstellt, das 1999 veröffentlicht wurde und mit dem mittlerweile 3 Millionen Angestellte in 60 Ländern in 30 Sprachen trainiert wurden.
„Nur nicht in der Baubranche“, fügte er hinzu.
„Nein, in der Baubranche tatsächlich nicht“, gab ich zu.
Er sah wieder auf seine Uhr. „Sie hatten Recht. Ich habe wirklich nicht alles ganz verstanden. Naja, die meisten Begriffe habe ich schon einmal gehört, aber ich kann nicht behaupten, dass ich verstanden habe, was Sie sagen wollten. Wie lange dauert denn die Langversion?“
„Ich könnte sie wahrscheinlich auf ein paar Stunden ausdehnen, aber ich finde am interessantesten, dass ich keinen der Begriffe und keine der Methoden kannte, als ich begann – außer der Pareto-Analyse. Anders ausgedrückt wusste ich nicht, dass es um positive Devianz geht, wenn Leute befragt werden, die 25 Jahre lang verletzungsfrei gearbeitet haben (positive Devianz bedeutet im Zusammenhang mit meiner Befragung, die Abweichung der Antworten basierend auf der Erfahrung von wenigen (selbst) erlebten Unfälle). Es schien mir einfach, dass sie etwas Relevantes zu dem Thema wissen mussten. In einigen Werken gab es extrem hohe Unfallzahlen, jedoch trotzdem immer ein paar Personen, die noch nie verletzt worden waren.
Wir gehen also auf eine sehr unwissenschaftliche Reise in die Welt der Sicherheit und des menschlichen Fehlverhaltens. 85-95% 5-10% 1-5% Sie selbst: Ihre eigenen Handlungen verursachen einen Unfall oder eine Verletzung oder tragen dazu bei. Andere Personen: Das Verhalten von jemand anderem verursacht einen Unfall oder eine Verletzung oder trägt dazu bei. Geräte: Etwas Unerwartetes passiert (Drahtseil reißt, Ampel funktioniert nicht, Verbindung bricht, Schlauch platzt usw.), ohne dass Sie oder jemand anderer daran beteiligt sind. Der Beginn war keinesfalls die Idee oder Absicht, wie Sie sagen, „menschliches Fehlverhalten zu decodieren“ oder Techniken zur Reduzierung kritischer Fehler zu entwickeln. Stattdessen habe ich zu Anfang einfach versucht, die Effizienz herkömmlicher, verhaltensbasierter
Sicherheitsmaßnahmen zu verbessern, um besser als unsere Wettbewerber zu sein.“
Der dritte Blick auf die Uhr. „Also gut“, gab er nach. „Dann von Anfang an, aber bitte nicht zwei Stunden lang. Haben Sie es wirklich geschafft?“
„Wie gesagt, den ersten Lichtblick hatte ich 1989. Ich habe einen Kurs für Vorgesetzte zu positiven Verhaltensbeobachtungen geleitet. So ganz positiv fanden es diese Vorgesetzten nicht, zwei Tage in einem Seminarraum zu verbringen, aber da saßen wir nun, inmitten der Wildnis von British Columbia in Kanada, als ich herausfand, dass von den 25 anwesenden Personen niemand bei der Arbeit oder Zuhause jemals aufgrund von kaputten oder nicht optimal funktionierenden Geräten verletzt worden war.
Zudem war auch niemand von uns verletzt worden, weil jemand anderer etwas Unerwartetes tat. Zugegeben, mit Ausnahme von aktiven Kontaktsportarten, bei denen der Gegner versucht, Sie zu besiegen (z.B. Kampfsportarten) aber daher also per Definition keine zufällige oder unabsichtliche Verletzung auftrat. (siehe Abbildung 1, Drei Quellen unerwarteter Ereignisse).
Ab diesem Zeitpunkt fragte ich in jedem Kurs alle Teilnehmer, ob sie schon einmal aufgrund von kaputten oder nicht optimal funktionierenden Geräten oder aufgrund einer anderen Person, die etwas Unerwartetes tat, ernsthaft verletzt wurden (genäht werden mussten oder schlimmer).
Als ich 1.000 Menschen diese Frage gestellt hatte, war mir klargeworden, dass es bei der Verletzung der eigenen Person in über 95 % der Fälle eine klare Primärursache gab.
Von hier aus konnten wir schnell schließen, dass die Hauptursache unerwarteter Vorfälle unter Beteiligung der eigenen Person Fehler sind; Dinge, die wir eigentlich nie tun würden oder wollen, wie ausrutschen und fallen, oder etwas fallen lassen.
Die Menschen dazu zu bringen, sich einzugestehen und es offen mitzuteilen, half entscheidend dabei herauszufinden, dass „menschliches Fehlverhalten“ 95 % (oder mehr) der Primärursachen darstellen.

Im dritten Schritt leiteten wir aus kritischen Verhaltensweisen kritische Fehler ab und in beiden Fällen ist kritisch im Sinn von Pareto gemeint, laut dessen 80-20-Prinzip zum Beispiel die kritischen 20 % Ihrer Kunden für 80 % Ihres Umsatzes stehen, oder im Thema Sicherheit 80 oder 90 % Ihrer Verletzungen in 10- 15 Verhaltensweisen begründet sind, daher also „kritische Verhaltensweisen“.
Da die kritischen Verhaltensweisen von tatsächlichen Verletzungen am Arbeitsplatz abgeleitet waren, unterschieden sich die Listen leicht je nach Arbeitsplatz, Arbeitsverfahren und Gefahren. Es gab aber einige kritische Verhaltensweisen wie Augen bei der Sache und Gefahrenzone meiden, die auf jeder Liste auftauchten.
Als ich Dutzende von Verhaltenschecklisten las, die ich für verschiedene Kunden entwickelt hatte, fielen mir vier kritische Fehler auf: Augen nicht bei der Sache, Kopf nicht bei der Sache, Aufenthalt in der Gefahrenzone und Gleichgewicht verloren.

Im nächsten Schritt habe ich Interviews mit Mitarbeitern an hoch riskanten Arbeitsplätzen geführt, die noch nie eine meldepflichtige Verletzung hatten. In einem Sägewerk in British Columbia lag die Gesamtzahl meldepflichtiger Arbeitsunfälle bei 134 je 200.000 Arbeitsstunden. Trotzdem gab es Personen, die in 20 oder 25 Jahren noch nie verletzt worden waren. Obwohl ich nicht ganz sicher war, dachte ich mir, dass sie über die Umstände oder über ihr eigenes Verhalten genau Bescheid wissen mussten aber in den Interviews erhielt ich von diesen Leuten üblicherweise keine Informationen über Gefahren oder Prozesse, sondern eher über den menschlichen Faktor oder menschliche Zustände, die zu menschlichem Fehlverhalten führen.
Im nächsten Schritt wandte ich noch einmal das Pareto-Prinzip an. Wenn Sie Leute fragen, woher Fehler kommen, werden viele Faktoren genannt, Hetze, Frust, Müdigkeit, Bequemlichkeit, große Freude, schwere Sorgen, Panik, usw. Wenn Sie aber an Dinge denken, die eher täglich als nur in extremen Situationen vorkommen, fallen Weihnachten, Beerdigungen und Werksbrände schnell aus der Betrachtung heraus. Es vergeht jedoch kaum ein Tag, an dem Sie es nicht eilig haben, frustriert oder müde sind oder etwas zu leichtfertig an Aufgaben herangehen.
Auf dieser Basis haben wir die sogenannten Zustände und kritischen Fehler zusammengeführt, die das Risikomuster bilden, das zu fast 100 % der Verletzungen an der eigenen Person führte, und von dem ich schon wusste, dass es in über 95 % aller Verletzungen, bei der Arbeit oder zuhause, als Primärursache oder auslösendes Ereignis zu verzeichnen war. (siehe Abbildung 2 – Risikomuster für Zustände, die zu Fehlern führen).
Wenn man das ABC-Modell für vorsätzliches Verhalten betrachtet, folgt auf den Aktivator („activator“) das Verhalten („behavior“) und darauf wiederum eine Konsequenz („consequence“). Wenn die Konsequenz positiv ist, wird das Verhalten wahrscheinlich wiederholt, wenn sie negativ ist, wird das Verhalten mit weniger Wahrscheinlichkeit wiederholt.
Wenn jedoch das Verhalten unabsichtlich ist, zum Beispiel das Übersehen eines Stoppschilds oder einer roten Ampel und daraufhin das Überfahren der Kreuzung ohne voriges Anhalten, liegt es am fehlenden Aktivator. Wenn Sie also fragen „Warum haben Sie das Stoppschild nicht gesehen?” und darauf die Antwort „Weil ich in Eile war!“ bekommen, können Sie weiterfragen „Wussten Sie, dass Sie in Eile waren?“ Die Person wird dies bejahen, denn sie musste eine bewusste Entscheidung für das Fahren mit höherer Geschwindigkeit als üblich treffen! Wenn Sie also die Eile erkennen könnten und dann schnell na die vier kritischen Fehler denken könnten, wäre es viel weniger wahrscheinlich, dass Sie das Stoppschild übersehen.
Anders ausgedrückt ersetzen Sie die physikalischen Aktivatoren wie das Stoppschild oder die rote Ampel durch einen psychologischen Aktivator wie Eile, Frust oder Müdigkeit.
Dies wurde zur ersten Technik zur Reduzierung kritischer Fehler: Den eigenen Zustand („Gemütszustand“) zu erkennen, sodass Sie keinen kritischen Fehler begehen.
Leider können wir Bequemlichkeit nicht als Aktivator nutzen, weil es ein passiver Zustand ist, während Eile, Frust oder Müdigkeit aktive Zustände sind, die sich vom Normalzustand unterscheiden, während Bequemlichkeit oder überwundene Angst vor der Gefahr – wie beim zu schnellen, sorglosen Fahren – dazu führen, dass Ihre Gedanken wandern. Und wenn Ihre Gedanken nicht bei der Sache sind, verfallen Sie automatisch in das Verhalten, das Sie gewohnt sind. Eine weitere Technik zur Reduzierung kritischer Fehler ist die Arbeit an Gewohnheiten: Bewegen Sie zuerst Ihre Augen, bevor Sie Ihre Hände, Füße, Ihren Körper oder Ihr Auto bewegen.
Es gab jedoch einige kritische Verhaltensweisen wie Augen bei der Sache und Gefahrenzone meiden, die auf jeder Checkliste standen.
Sich auf Gewohnheiten und Reflexe zu verlassen, verleiht Ihnen jedoch noch nicht die Fähigkeit, eine möglicherweise gefährliche Situation vorauszusehen und die Gefahrenzone zu verlassen. Hierfür müssen Sie geistig anwesend sein. Wenn Sie die Muster von Zuständen, die zu Fehlern führen, bei anderen beobachten, zum Beispiel, wenn Sie merken, wie jemand Ihnen dicht auffährt, werden Sie vermutlich Ihren eigenen Abstand zum Vordermann überprüfen. Wenn Sie also ein Muster sehen, in dem ein Zustand zu einem Fehler führt, denken Sie automatisch über bestimmte Risiken nach, beschäftigen sich mit Ihrer Tätigkeit, und halten sich eher nicht in der Gefahrenzone auf, wenn die andere Person schließlich den kritischen Fehler begeht.
Die letzte Technik besteht darin, Beinahe-Unfälle und kleine Fehler zu analysieren, zum Beispiel, wenn Sie fast Ihr Gleichgewicht verloren hätten. Denken Sie darüber nach, ob sich um einen Zustand wie Eile, Frust oder Müdigkeit handelte, auf den Sie nicht angemessen reagiert haben. Oder ob es sich um Bequemlichkeit handelte, deren Basis wahrscheinlich eine sicherheitsrelevante Gewohnheit ist, an der Sie noch arbeiten müssen (Schnürsenkel?).

Das Ziel ist also, Personen diese vier Techniken zur Reduzierung kritischer Fehler näher zu bringen; so gut, dass sie sie in Echtzeit umsetzen können. Bei Geschwindigkeiten von 28 Meter pro Sekunde (100 km/h) müssen diese Techniken und Fähigkeiten wirklich gut sitzen, um effektiv zu funktionieren. Die Erkenntnis „ich war wohl total gefrustet“ hilft nach dem Autounfall nur noch begrenzt. (siehe Abbildung 3 – CERT-Karte).
So habe ich jedenfalls die vier Techniken zur Reduzierung kritischer Fehler entwickelt, oder wie Sie sagten „menschliches Fehlverhalten dekodiert“.
„Ok“, sagte er mit einem erneuten Blick auf die Uhr. „Und wie setzen wir das jetzt für die Baubranche um…?“

Titel: Menschliches Fehlverhalten entschlüsselt
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Autor:Larry Wilson
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