Ob am Arbeitsplatz, zu Hause oder unterwegs, es gibt im Grunde nur drei Quellen unerwarteter Ereignisse: Erstens, man selbst macht etwas Unerwartetes. Zweitens, jemand anders macht etwas Unerwartetes. Und drittens, es passiert etwas Unerwartetes, ohne dass es durch eine beteiligte Person ausgelöst wurde.
Nach dem ersten Beitrag in der Reihe „Paradigmenwechsel in der Arbeitssicherheit“ widmen wir uns nun den Quellen unerwarteter Ereignisse. Dabei gehen wir der Frage auf den Grund, mit welcher Art von unvorhergesehenen Einflussfaktoren wir es zu tun haben, wenn Unfälle und Verletzungen passieren – und welches Umdenken an dieser Stelle hilfreich ist. Denn neben den sicherheitsrelevanten Maßnahmen, die in den Bereich des Sicherheitsmanagements im Unternehmen fallen, liegt der entscheidende Schlüsselfaktor in der Hand des einzelnen Mitarbeiters selbst. Jeder Einzelne hat einen weitaus größeren Einfluss auf seine eigene Sicherheit, als vielen von uns bewusst ist. Das gilt einerseits ganz allgemein und andererseits ganz besonders für den Arbeitsplatz selbst. Zu dieser Thematik finden Sie in diesem Artikel unter anderem eine überraschend einfache und wirkungsvolle Fragestellung, die jedem die Augen öffnen wird.
Im Fokus des ersten Paradigmenwechsels war der Unterschied zwischen Gefahr und gefährlicher Energie. Bei dieser Unterscheidung ging es in erster Linie um das Ergebnis von (Beinah-)Unfallanalysen, dass auch unbewegliche Objekte eine potenzielle Gefahr darstellen – und zwar vor allen Dingen dann, wenn sich der Mensch aus einer eigenen Bewegung heraus gegen oder in etwas hinein bewegt. Die maßgebliche Schlussfolgerung mag relativ einfach erscheinen, dennoch ist sie wegweisend: Bei der klassischen Analyse und Prävention von Unfällen und Verletzungen stehen oft nur Gefahrenquellen im Mittelpunkt, die in sich selbst ein Risiko darstellen. Dies reicht jedoch erfahrungsgemäß nicht aus, da der Mensch selbst zusätzliche Energien mit in die Situation bringt. Insofern gilt es zu erkennen, dass es von größter Wichtigkeit ist, die Augen und den Kopf immer bei der Sache zu haben um dadurch im Blick zu behalten, wohin man sich bewegt.
Übertragen auf die Arbeitssicherheit bedeutet dies, dass bereits kleine unachtsame Bewegungen folgenreiche Fehler nach sich ziehen können. Ein falscher Handgriff oder ein Schritt in die falsche Richtung reichen dafür bereits aus. Genau das macht menschliches Fehlerverhalten aus. Es sind diese kurzen Momente der Unachtsamkeit, die ein Risiko um ein Vielfaches erhöhen. In diesen Momenten entstehen folgenreiche Fehler, zum Beispiel durch die falsche Bedienung einer Maschine oder Unachtsamkeit. Im Grunde ist dies im Vergleich zu allen weiteren Situationsumständen erfahrungsgemäß der entscheidende Faktor. Umso wichtiger ist dies immer dann, wenn Menschen in Bewegung sind oder sich etwas in ihrer Umgebung bewegt, wie zum Beispiel Maschinen oder Fahrzeuge.
Wenn nun menschliches Fehlverhalten eine so zentrale Rolle spielt, stellt sich im nächsten Schritt die Frage nach dem „Wer“, also auf wessen Fehler der Vorfall zurückzuführen ist? Liegt der Fehler etwa immer an einer mechanischen oder elektronischen Fehlfunktion oder steckt doch menschliches Fehlverhalten dahinter? Ist der ursprüngliche Fehler einer anderen Person passiert oder sind wir in den meisten Fällen vielleicht doch „selbst schuld“?
Eine Sache, von der wir mit größter Gewissheit ausgehen können, ist, dass niemand ernsthaft versucht, sich bei der Arbeit zu verletzen oder hohe Unfallschäden zu verursachen. Niemand plant im Vorhinein, einen (manchmal sogar weitreichenden) Fehler zu machen. Das allerdings heißt gleichzeitig, dass etwas Unerwartetes passieren muss, das einen Unfall begünstigt. Ein unerwartetes Ereignis löst in der Regel eine Art „Dominoeffekt“ aus. Je nachdem, wie viele weitere Faktoren zusammenspielen, entwickelt sich aus diesem unerwarteten Ereignis in einer zunächst harmlosen Situation eine Kettenreaktion. Ist jedoch diese Kettenreaktion erst einmal in Gang gesetzt, ist im Vorfeld kaum abzuschätzen, wie gefährlich eine Situation wird oder wie sehr die Unfallwahrscheinlichkeit steigt. Geschweige denn wie schwer ein Unfall dann sein kann.
Wie schwer die Verletzungen letztendlich ausfallen, hängt in der Regel davon ab, wie viel gefährliche Energie und Glück – oder auch Pech – im Spiel sind. Ironischerweise konzentrieren sich die meisten Sicherheitsexperten oft auf die üblichen Einflussfaktoren, wie zum Beispiel, ob die betroffenen Personen Schutzausrüstung getragen haben oder wie der Einsatz der Maschinen und Arbeitsprozesse zu verbessern sind. Damit konzentrieren sie sich jedoch auf genau einen spezifischen Unfallhergang, der nur ein mögliches Szenario von vielen darstellt.
DREI HAUPTQUELLEN UNERWARTETER EREIGNISSE IN PUNKTO SICHERHEIT
Wenn wir also zusammenfassend davon ausgehen können, dass niemand „plant“, sich eine Verletzung zuzuziehen, bedeutet das wiederum im Umkehrschluss, dass sich etwas Unvorhersehbares ereignet haben muss. Doch was sind die ursprünglichen Ursachen dafür?
Hier besteht der erste Schritt darin, zu erkennen, dass es im Grunde nur drei Quellen unerwarteter Ereignisse gibt (siehe Abbildung 1): Erstens, man selbst macht etwas Unerwartetes und verfällt in einen Sekundenschlaf. Zweitens, jemand anders macht etwas Unerwartetes, stößt eine hohe Palette mit dem Gabelstapler. Und drittens, es passiert etwas Unerwartetes, ohne dass es durch eine beteiligte Person ausgelöst wurde, zum Beispiel reißt ein defektes Sicherungsseil.
Welcher dieser drei Auslöser unvorhergesehener Ereignisse spielt Ihrer Meinung nach die größte Rolle oder verursacht die meisten Arbeitsunfälle? Wenn wir allen Mitarbeitern in Ihrem Unternehmen dieselben Fragen stellen würden, was würden sie darauf antworten?
Bevor wir uns die prozentuale Verteilung der jeweiligen Quellen unerwarteter Ereignisse ansehen, nehmen wir uns noch einen kurzen Moment Zeit und stellen eine hilfreiche Vorabüberlegung an: Was ist uns selbst hinsichtlich Verletzungen und Beinahe-Unfällen tatsächlich bisher im Laufe unseres Lebens passiert? Stellen Sie sich – oder anderen – dazu folgende Fragen:
Wie viele schwere Verletzungen haben Sie selbst bereits erlebt, also Knochenbrüche, Verbrennungen dritten Grades, ernsthafte Gehirnerschütterungen und so weiter? Wie viele leichte Verletzungen, wie Verstauchungen, Zerrungen, Wunden, die genäht werden mussten, leichte Gehirnerschütterungen oder ähnliches hatten Sie bislang? Wie viele Schnittwunden, blaue Flecken, Beulen und Schürfwunden hatten Sie? Wie viele davon hatten Sie im Vergleich mit anderen?
Offensichtlich ist es sehr unwahrscheinlich, wenn Sie gegen eine Trittleiter stoßen und Sie deswegen eine Beule haben, dass die Leiter „irgendetwas Unerwartetes getan“ hat. Was ist allerdings mit all den anderen Verletzungen, die Sie in anderen, vollkommen verschiedenen Situationen hatten?
Nachdem Sie sich im Rahmen der obigen Übung ein paar Gedanken darüber gemacht haben, welche Verletzungen Sie bis heute so hatten, stellt sich anschließend die Frage, wie viele von diesen dadurch verursacht wurden, dass eine unerwartete Fehlfunktion an einem Gerät aufgetreten ist? Wenn wir diese Frage im Rahmen unserer Workshops und Schulungen in den Raum stellen, dann heben in einem Raum mit 100 Leuten in der Regel nur ein bis zwei Personen die Hand.
Wenn Sie als nächstes nach Verletzungen fragen, die durch eine dritte Person verursacht wurden, melden sich von 100 Leuten vielleicht 10 bis 15 Personen. Doch auch von diesen wird kaum jemand mehr als ein Beispiel parat haben. (Kurzer Hinweis: Schließen Sie Kontaktsportarten aus, denn hier ist es das Ziel des Gegners, Sie zu besiegen und gegebenenfalls zu verletzen – man kann hier also nicht von etwas „Unerwartetem“ sprechen.)
Und zu guter Letzt bleiben noch all die Verletzungen im Bereich des „Selbst“. Die meisten Menschen haben 95 Prozent all ihrer Verletzungen selbst verursacht. Allerdings geben die meisten Leute mehr oder weniger freiwillig zu, dass sich diese auf 97 bis 99 Prozent belaufen. Andere Unfallursachen kommen vergleichsweise selten vor.
Mehr als drei Millionen Menschen haben sich mit diesen Gedankengängen im Gespräch mit uns und im Rahmen unserer Workshops auseinandergesetzt – und das an abertausenden von Arbeitsplätzen. Im Kontext der Paradigmenwechsel ist dies eine der wirkungsvollsten Lektionen zum Thema persönliche Sicherheit, die man den Menschen mit auf den Weg geben kann: Ihnen wird bewusst, worin die wahren Ursachen eines Unfalls oder einer Verletzung liegen.
Die meisten Menschen denken (oder dachten) bevor sie sich diese Fragen stellten, dass der Anteil für unerwartete Ereignisse durch einen Gegenstand (wie Maschinen, Fahrzeuge, etc.) oder durch andere Menschen wesentlich höher sein würde als der Anteil für selbstverschuldete. Selbst diejenigen, die bereits davon ausgegangen sind, dass der Großteil der Vorfälle mit Verletzungsfolge wahrscheinlich von den Betroffenen selbst verursacht werden, sind sichtlich überrascht, wenn sie feststellen, wie groß dieser Anteil wirklich ist. Mehr als 80 Prozent der Menschen sind noch nie durch eine Fehlfunktion einer Maschine oder eines Werkzeugs schwer verletzt worden oder weil jemand anders etwas Unerwartetes getan hat. In anderen Worten: Sie haben nahezu 100 Prozent ihrer eigenen schweren Verletzungen selbst verursacht.
Wenn jeder Einzelne seine persönliche Risikopyramide (Abbildung 2) aufstellt und dann über alle drei Quellen unerwarteter Ereignisse nachdenkt, dann werden gerade denjenigen Menschen die Augen geöffnet, die die Verantwortung gerne abgeben. Das betrifft besonders jene, die es vorziehen oder wirklich versuchen, das Arbeitsumfeld und damit das Unternehmen allein für all die arbeitsbedingten Verletzungen verantwortlich zu machen.
Das Ziel muss dementsprechend darin bestehen, ein Umdenken anzustoßen. Es sind eben nicht alle Verletzungen auf Managementfehler zurückzuführen, das Management ist nicht „einfach zu knauserig“ und kümmert sich deswegen nicht um notwendige Reparaturen oder die Verbesserung unsicherer Arbeitsbedingungen. Wir haben also den wahren „Missetäter“ kennengelernt: Wir selbst sind dieser „Missetäter“.
Diese Einsicht ist jedoch nichts Schlechtes – ganz im Gegenteil. Genau genommen eröffnet dies neue Möglichkeiten. Denn wenn es immer daran liegen würde, dass unerwartet eine Fehlfunktion auftritt oder dass jemand anders etwas Unerwartetes tut, dann wären wir selbst vollkommen oder nahezu machtlos bei der Frage, was wir dagegen tun können. Wenn es jedoch an uns selbst ist, dann sind wir auch in der Lage, etwas zu ändern.
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Wenn Sie Leuten die Frage stellen, was wichtiger ist – Gefahr oder menschliches Versagen – dann werden Sie viele verschiedene Antworten bekommen. Der folgende Artikel geht auf diese Perspektiven ein und zeigt einen neuen Blickwinkel auf Gefahren und gefährliche Energien auf.
Risiken sauber zu bewerten, war schon immer nicht einfach. In der Arbeitssicherheit muss die klassische Risikomatrix um eine Dimension erweitert werden. Wir zeigen Ihnen, welche dies ist und wie Sie damit eine verbesserte Risikobewertung vornehmen.
„Glück gehabt“: Das hört man oft im Zusammenhang von Beinaheunfällen und leichten Verletzungen. Wer genauer hinsieht, weiß, dass Unfälle und Verletzungen wenig mit Glück zu tun haben. Erfahren Sie hier, was wirklich den entscheidenden Unterschied macht.
#5 – Stagnation und Ende der Weiterentwicklung von Sicherheitsbeurteilung und Entwicklung von Fertigkeiten
Je besser wir etwas können, desto seltener verletzen wir uns. Wenn wir aber zu viel Routine bekommen, dann neigen wir zu Selbstüberschätzung – mit schweren Folgen. Denn Verletzungszahlen sinken zwar mit zunehmendem Alter und Erfahrung, ihre Schwere aber steigt.
#6 – Zustand-Risiko-Muster erkennen und das Konzept des Self-Triggering
Wie lassen sich Fehler vermeiden, bevor sie passieren? Für diesen Zweck haben wir das Konzept des Self-Triggering entwickelt: So gehen Sie mit den emotionalen und physischen Zuständen richtig um, noch bevor kritische Fehler entstehen und Verletzungen passieren.
#7 – Die Techniken zur Reduzierung kritischer Fehler und ihre neurowissenschaftlichen Grundlagen
Fehler passieren schneller, als wir denken – umso schneller müssen wir handeln, um Verletzungen zu vermeiden. Ein trainiertes Unterbewusstsein bietet hierfür die Grundlage: Mit den CERTs, die auf neuronalen Prozessen aufbauen, kann diese blitzschnelle Reaktion gelingen!
#8 – Die Stufen der Selbstüberschätzung, oder: Warum es nicht darauf ankommt, was wir tun, sondern wann wir es tun
Je geübter, desto anfälliger werden wir für Verletzungen und Unfälle. Der Grund: Wenn wir kurzzeitig weder unsere Augen noch unseren Kopf bei der Sache haben, sind wir kurz „schutzwehrlos“. Wir erklären Ihnen, wie Sie rechtzeitig und richtig reagieren.
#9 – Kritische Entscheidungen (1): Normales vs. außergewöhnliches Risiko
Viele Unfälle und Verletzungen sind das Ergebnis von unbeabsichtigten Fehlern. Doch was, wenn wir genau wissen, dass wir ein Risiko eingehen, indem wir eine Vorschrift „ausnahmsweise“ missachten? Warum wir immer wieder fatale Entscheidungen treffen – und wie wir sie vermeiden können.
#10 – Kritische Entscheidungen (2): Wie wir unser Risiko und unsere Fehleranfälligkeit bewusst erhöhen
Wann neigen wir dazu, unser Risiko bewusst zu vergrößern? Welche Risiken gehen wir eher ein als andere? Häufig unterliegen wir der Illusion, alles unter Kontrolle zu haben. Doch dies ist allzu oft ein Irrtum, der unser Unfall- und Verletzungsrisiko deutlich erhöht.
#11 – Qualität, Produktionseffizienz und Kundenbeziehungen verbessern
Ob an der Maschine, im Auto oder am Schreibtisch: Auch bei Routine-Tätigkeiten passieren Fehler – im Schnitt 15-30 pro Tag. Diese beeinträchtigen auch die Qualität und Produktionseffizienz. Mit dem richtigen Ansatz liegt das Verbesserungspotenzial bei 40 %.
#12 – Die wahren Ursachen von Hektik und eine neue Perspektive auf Mitarbeiterengagement
Selbst bei guter Planung geraten wir im Alltag nur allzu leicht in Hektik. Die eigentlichen Ursachen dafür bleiben häufig unerkannt. Erfahren Sie, welche einfach anzuwendenden Methoden Fehlervermeidung, Arbeitseffizienz und Mitarbeiterengagement enorm unterstützen können.