„Glück gehabt“: Das hört man oft im Zusammenhang von Beinaheunfällen und leichten Verletzungen. Wer genauer hinsieht, weiß, dass Unfälle und Verletzungen wenig mit Glück zu tun haben. Erfahren Sie hier, was wirklich den entscheidenden Unterschied macht.
„Glück gehabt“ ist eine Aussage, die wir oft im Zusammenhang von Beinaheunfällen und leichten Verletzungen hören, sei es am Arbeitsplatz, im Sport und im privaten Bereich. Vor allem unsere Reflexe bewahren uns oft vor Schlimmerem. Wenn man einmal genauer hinsieht, wird jedoch klar, dass gerade Arbeitsunfälle und arbeitsbedingte Verletzungen wenig mit Glück zu tun haben. Den entscheidenden Unterschied macht menschliches Fehlverhalten. Genauer gesagt: Ob wir die Augen und den Kopf bei der Sache haben. Was passiert, wenn wir das nicht tun, zeigt unser vierter Paradigmenwechsel-Artikel.
Der vorangegangene Teil der Artikelreihe zeigte: Die schwersten Verletzungen entstehen meist nicht durch die als am gefährlichsten wahrgenommen Aktivitäten. Doch warum liegen wir mit unserer Einschätzung so oft falsch? Die als gefährlich wahrgenommenen Aktivitäten bergen in der Regel sehr viel potenziell gefährliche Energie. Wir rechnen jedoch damit und können uns dadurch vor ihr schützen, oder sie ist bereits sehr gut abgeschirmt. Was wir hingegen übersehen, sind die unscheinbaren Gefährdungen, die erst durch menschliches Fehlverhalten zum Risiko für die persönliche Sicherheit und Gesundheit werden.
Wie schon im Beitrag zu den gefährlichsten Tätigkeiten gezeigt, bergen die kurzen Momente der Unaufmerksamkeit das größte Gefahrenpotenzial. Dieser Faktor wird von den meisten Menschen drastisch unterschätzt. Der Schluss daraus müsste nun sein, in jeder Risikobewertung Fehlverhalten und menschliches Versagen als Risikofaktor einzukalkulieren. Das ist allerdings nicht der Fall.
Neben dieser verschobenen Gefahrenbewertung haben sich weitere Glaubenssätze etabliert, die so nicht belegbar sind. Zum Beispiel kommen – glücklicherweise – auf viele leichte Verletzungen nur wenige schwere Verletzungen. Seit dieser Feststellung bezieht man sich allerdings bei der Arbeitssicherheit immer wieder auf Risikopyramiden (siehe auch Abbildung 2).
Statistisch gesehen nimmt die Häufigkeit der Unfälle mit der Schwere ihrer Folgen ab. Am häufigsten sind Beinaheunfälle, gefolgt von minimalen Verletzungen. An dritter Stelle stehen leichte Verletzungen, am vierthäufigsten sind schwere Verletzungen und zuletzt folgen Todesfälle. Diese Statistiken geben jedoch keinen Aufschluss darüber, warum das so ist. Als entscheidenden Unterschied nahm man an, dass der eine eben Glück hatte – und der andere nicht.
Das ist aber falsch. Denn schließlich versucht niemand, sich ernsthaft zu verletzen. Die Natur hat uns zudem zahlreiche Mechanismen mitgegeben, mit denen wir Verletzungen verhindern können – zum Beispiel Reflexe. Wir setzen also instinktiv alles Mögliche ein, um unversehrt zu bleiben. Wir weichen herunterfallenden Ästen aus, ziehen den Kopf ein um uns nicht zu stoßen und bremsen, um kein anderes Auto zu rammen. Ob wir uns tatsächlich verletzen oder nicht ist nicht reine Glückssache.
Jeder von uns hatte in seinem Leben in etwa 5.000 bis 10.000 Katzer, Beulen, blaue Flecken und Schnittwunden. Nur fünf bis zehn hingegen waren schwere Verletzungen. Bei einem Verhältnis von 1.000:1 kann man aber nicht allein von Glück sprechen. Denn selbst bei „unglücklichen Zufällen“ gibt es erkennbare Ursachen für diese Verletzungen – es sei denn, man wird von einem Meteoriten am Kopf getroffen.
Betrachten wir die Risikomatrix, lassen sich mögliche schwere Verletzungen an mehreren Stellen einzeichnen. Die Ursache für die meisten schwerwiegenden Verletzungen, die tatsächlich passieren, sind allerdings in der Mitte angesiedelt (siehe dazu Abbildung 1). Im Zusammenhang mit den konkreten Einflussfaktoren fällt auf, dass es einige Muster und Parallelen gibt.
AUGEN NICHT BEI DER SACHE
Mehr als 95 Prozent aller Vorfälle sind „von uns selbst verschuldet“, weil wir entweder mit dem Kopf oder mit den Augen nicht bei der Sache waren. Aber was passiert eigentlich, wenn weder Kopf noch Augen bei der Sache sind?
Lassen Sie einmal Ihre Verletzungen Revue passieren: Haben Sie sich jemals in einem Augenblick verletzt, während Sie gedanklich auf Ihre Tätigkeit konzentriert waren oder als Sie gemerkt haben, dass Sie abschweifen und sich des Risikos genau bewusst waren? Wohl kaum.
Auch beim Punkt „Augen nicht bei der Sache“ sollten Sie nochmal an Ihre schwereren Verletzungen denken: Haben Sie in dem Moment der Verletzung auch den Blick auf Ihre Tätigkeit gerichtet, stimmten Blick- und Bewegungsrichtung überein? Hatten Sie im Blick, was auf Sie zukommen könnte (Stichwort: Gefahrenzone) beziehungsweise haben Sie gesehen, was eventuell dazu führen könnte, dass Sie das Gleichgewicht oder den Halt verlieren? Kurz gesagt: Hatten Sie die Augen bei der Sache – oder eben nicht?
Wir können aus Erfahrung sagen, dass die eigene Aufmerksamkeit der entscheidende Faktor dafür ist, wie schwer eine Verletzung ausfällt – und zwar unabhängig von der Art der Tätigkeit.
Wenn ein Unfall passiert, ist es in der Regel so, dass die Betroffenen weder mit dem Kopf noch mit den Augen bei der Sache sind. Denn dann haben auch die Reflexe keine Chance mehr: Wenn man im entscheidenden Moment weder hinsieht noch nachdenkt, wird aus einem geringen Risiko schnell eine schwerwiegende Verletzung (siehe Abbildung 2).
Denken Sie darüber nach: Wie oft haben Ihre Reflexe einen Zwischenfall oder eine unbeabsichtigte Verletzung verhindert? Wie oft mussten Sie plötzlich scharf abbremsen oder das Steuer herumreißen, um einem entgegenkommenden Auto, LKW oder Fußgänger auszuweichen? Wie oft haben Sie Ihr Gleichgewicht gefunden, ohne wirklich hinzufallen? Hunderte Male, tausende?
Dasselbe gilt aber auch für tatsächliche Verletzungen, die hätten schlimmer ausfallen können. Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob man zum Beispiel noch die Möglichkeit hat, abzubremsen, das Lenkrad herumzureißen, den Kopf einzuziehen, oder den eigenen Sturz abzufangen.
Eines ist jedenfalls sicher: Unsere Reflexe bewahren uns viel zu oft vor Schlimmerem, als dass es sich lohnen würde, mit dem Zählen auch nur anzufangen.
Diese Beobachtungen eröffnen neue Möglichkeiten. Durch das Schulen von sicherheitsrelevanten Fähigkeiten und Gewohnheiten lässt sich die Schwere von Arbeitsunfällen reduzieren. Zahlreiche schwere Unfälle könnten sogar ganz vermieden werden. Voraussetzung dafür ist, dass die Menschen darin geschult werden, ihre Augen bei der Sache zu behalten.
Trainieren Sie, Ihren Blick darauf zu richten, was dazu führen könnte, dass Sie das Gleichgewicht oder den Halt verlieren. Schulen Sie Ihr Auge darauf zu erkennen, wo potenzielle Gefahrenzonen liegen, noch bevor Sie sich in Bewegung setze, wahrzunehmen, was über Ihnen ist, bevor Sie aufstehen, damit Sie sich nicht den Kopf anschlagen. Erst die Augen, dann den Körper bewegen!
Jeder ist einmal müde, frustriert, in Eile oder nachlässig. Dadurch werden wir anfälliger für kritische Fehler. In solchen Momenten neigen wir zum Beispiel dazu, beim Abbiegen nicht über die Schulter zu sehen und somit ein geringes Risiko unnötig zu erhöhen. Reflexe und Gewohnheiten können Selbstüberschätzung oder nachlässiges Verhalten teilweise ausgleichen. Wer allerdings die Gefahr nicht kommen sieht oder unkonzentriert ist, kann kritische Fehler auch durch Reflexe nicht verhindern.
Deshalb: Bleiben Sie aufmerksam und richten Sie Ihren Blick dahin, wo Ihre Arbeit stattfindet!
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