Warum ist das so? Übersehen diese Theorien etwas? Sind sie fehlerhaft? Oder wenden wir das System nicht richtig an?
Als Autor von SafeStart und Moderatorvon SafeConnection beschäftigt sich Larry Wilson seit vielen Jahren mit diesem Mysterium. Mit einer Reihe internationaler Experten hat Larry nun mögliche Lösungen diskutiert. Sein Gedanke vorab: »Es liegt sicher nicht daran, dass wir nicht genug SIFs hatten, um daraus zu lernen.«
Wie kommt das? Dr. Waddah Ghanem, Senior Director des Fellow Board Directors Institute GCC im Nahen Osten, sieht eine mögliche Erklärung im sogenannten Hawthorne-Effekt: »Als das Management anfing, sich auf Verletzungen mit Ausfallzeiten (Engl.: lost time injuries, LTIs) und Arbeitsschutz-KPIs zu konzentrieren, stellten sie fest, dass viele Mitarbeiter beim Treppensteigen mit dem Fuß umknickten, was sich negativ auf ihre Statistik auswirkte. Das lenkte sie von ihren Maßnahmen im Prozesssicherheitsmanagement (Engl.: process safety management, PSM) ab, weil sie sich stattdessen verstärkt auf die persönliche Sicherheit konzentrierten. Und weil die LTIs einen so großen Einfluss auf die Erreichung der gesetzten Unternehmensziele hatten, können Sie sich vorstellen, was passierte: Die Leute versuchen alles, um den Vorfall nicht als LTI zu zählen.«
Larry Wilson ergänzte diesen Gedanken: »Egal, auf welche Kennzahl man sich konzentriert, ob LTIs oder meldepflichtige Unfälle, diese Kennzahl wird übermächtig und ihre Häufigkeit wird sinken – aber der explizite Fokus auf die Vermeidung von tödlichen Unfällen wird fast schon Nebensache«.
In ähnlicher Weise äußerte sich Salman Abdulla, Executive Vice President von Emirates Global Aluminium: »Wie viele Untersuchungsberichte sagen, dass organisatorische Faktoren die Ursache für einen Beinahe-Unfall oder eine LTI waren? Wir geben immer den Menschen die Schuld, anstatt zu versuchen, das System zu verbessern. Und wenn wir uns nicht an die wirklichen Ursachen, einschließlich der Entscheidungen auf der Führungsebene, herantrauen, dann werden wir die Todesfälle nicht in den Griff bekommen und die schweren Verletzungen nicht verhindern können.«
Wir geben den Menschen die Schuld, anstatt zu versuchen, das System zu verbessern.
Als T. R. Murali seine derzeitige Stelle antrat, feierte sein Unternehmen gerade vier Jahre ohne einen tödlichen Unfall, was ein großer Erfolg war. Allerdings hatte die Firma zahlreiche Fälle von umgekippten Kränen: »Es war reines Glück, dass sie nicht mit einem Todesfall endeten«, sagte Murali und verdeutlichte damit, wie wichtig es ist, bei Beinahe-Unfällen die wahre Ursache anzugehen. Wir können nicht einfach warten, bis uns das Glück verlässt. Selbst wenn Ihre SIF-Rate niedrig ist, kommt es darauf an, ob dies das Ergebnis einer bewussten Unfallvermeidungs- Strategie ist oder ob es sich um reinen Zufall handelt.
Peter Batrowny, Lead Consultant bei Shirley Parsons in Nordamerika), erklärte, dass man sich auf die potenziell tödlichen Beinahe-Unfälle konzentriere und die Prozesse aus organisatorischer Sicht betrachte. Außerdem beleuchte man die Untersuchungen und die Berichte über Beinahe-Unfälle, ob sie tatsächlich die versteckten Ursachen erkennen.
Der unabhängige HSE-Experte und ehemalige Executive Director HSE bei ADNOC Group, Abdulla Marzooqi, berichtete, wie das Topmanagement seines ehemaligen Arbeitgebers das Leitbild überarbeitete, um eine HSE- Leistung von Weltrang zu erreichen. Gleichzeitig habe man einige Prozesse verbessert, was zu großartigen Ergebnissen führte. In diesem Punkt stimmten ihm viele andere Teilnehmer zu: Führung und Engagement der obersten Managementebene seien entscheidend für die Senkung der SIFs.
Man muss den Einzelnen betrachten, seinen Zustand, seine Gedanken. Auf dieser Ebene muss man ansetzen, um die SIFs vollständig zu senken.
Wenn man die Dinge von einem persönlichen Standpunkt aus betrachtet«, fügte Larry Wilson hinzu, »können wir uns wohl darauf einigen, dass niemand versucht, sich „versehentlich“ schwer oder tödlich zu verletzen. Entweder hat man nicht reflexartig auf eine Situation reagieren können, der Reflex war nicht schnell genug, oder der Reflex war irrelevant. Letzteres ist zum Beispiel der Fall, wenn man einfach zu hoch oben war, als man fiel. Als Sicherheitsfachleute haben wir uns hauptsächlich auf die Fälle konzentriert, in denen der Reflex irrelevant war. Aber wir haben den Menschen nicht wirklich geholfen, ihre Reflexe für sich zu nutzen. Dazu gehört, dass sie an ihren Gewohnheiten arbeiten, um mit den Augen bei der Sache zu sein.«
Um die SIFs zu senken, sollte man also zuerst bei den »üblichen Verdächtigen« ansetzen und die organisatorischen Prozesse und Ziele auf das dafür nötige Level bringen. Nach Ansicht von Alex Carnevale, President von Dynacast, wird das allein aber wohl nicht ausreichen. Es sei ein guter Anfang. Aber wahrscheinlich müsse man tiefer gehen und sicherstellen, dass die einzelnen Mitarbeiter die für ihre Arbeit erforderlichen Kompetenzen verfügen. Dazu gehörten auch Fähigkeiten und Angewohnheiten, die sie davor bewahren, kritische Fehler zu machen, sobald sie den Risiken mit Selbstüberschätzung begegnen. Nur dann könne die SIF- Rate in dem Maße sinken, wie die Zahl der meldepflichtigen Arbeitsunfälle gesunken ist.