In unserem letzten Artikel haben wir gezeigt, dass die Macht der Gewohnheit uns oftmals dazu verleitet, Risiken zu unterschätzen. Wenn wir bestimmte Tätigkeiten wieder und wieder tun, dann treten Gewöhnungseffekte ein. Dadurch erscheint uns zum einen ein vorhandenes Risiko geringer, als es de facto ist: das Sicherheitsrisiko selbst bleibt unverändert. Zum anderen entstehen durch den Zustand der Selbstüberschätzung, in dem wir uns dann befinden, riskante Situationen bei ganz gewöhnlichen Tätigkeiten – einfach, weil wir mit Kopf und / oder Augen nicht bei der Sache sind. In diesem Beitrag zeigen wir anhand verschiedener Beispiele, wann die Gewohnheit zur ernstzunehmenden Gefahr wird und wie man diesem Effekt entgegenwirken kann.
Gewohnheit lässt Aufmerksamkeit im Alltag sinken
Dass gewohnte Tätigkeiten dazu führen, dass unsere Aufmerksamkeit für das Hier und Jetzt drastisch abnimmt, zeigen uns zahlreiche Alltagssituationen. Denken Sie nur einmal an ihren morgendlichen Weg zur Arbeit. Die meisten von uns gehen oder fahren ihn völlig in Gedanken, ohne überhaupt wahrzunehmen, was um uns herum geschieht. Meist können wir uns nicht einmal an ihn erinnern, wenn wir im Nachhinein über den Weg nachdenken. Genauso verhält es sich bei anderen routinierten Tätigkeiten wie dem Abschließen des Autos oder der Haustür. Oft stellen wir uns später die Frage, ob wir wirklich abgeschlossen haben.
Gewohnheit mindert Risikobewusstsein auch am Arbeitsplatz
Gewohnheit mindert auch das Risikobewusstsein am Arbeitsplatz. So fasst man nach jahrelanger Gewöhnung an Arbeiten in der Höhe den fatalen Entschluss, jetzt eben einmal kurz ohne Absicherung auf das Gerüst zu steigen und den vergessenen Hammer zu holen – schließlich wird nicht mehr gearbeitet und es geht nur noch darum, das Werkzeug aufzuräumen. Und bisher ist ja auch noch nie etwas passiert. Wenn wir dann eigentlich auch noch schnell nach Hause wollen, weil es kurz vor Feierabend ist, kommt eins zum anderen – wir treten an einer unsicheren Stelle auf, rutschen aus und verlieren den Halt.
Mit der Gewohnheit steigt also die Tendenz,
- größere Risiken einzugehen,
- geringere Risiken gar nicht mehr wahrzunehmen
- und sich sogar über Vorschriften hinweg zu setzen.
Der Zustand der Selbstüberschätzung kann hier zu einem Fehler führen, der schwere, ja sogar tödliche Folgen haben kann. Ein Risiko, dass im Grunde genommen also nur sehr gering ist, wird damit potenziert.
Gefährliche Energie bleibt auch für Routinierte gefährlich
Denn je öfter wir
- auf Leitern steigen
- mit Gefahrstoffen umgehen
- die Geschwindigkeitsbegrenzung übertreten
desto normaler werden diese potenziell riskanten Handlungen. Wir gewöhnen uns an das Risiko und nehmen es als weniger „schlimm“ war; mitunter denken wir gar nicht mehr daran.
Das Risiko für die persönliche Sicherheit, das mit bestimmten Tätigkeiten verbunden ist, bleibt jedoch immer vorhanden: Egal, ob wir zum ersten Mal mit giftigen Werkstoffen hantieren oder zum tausendsten Mal. Dies gilt für jede potenziell gefährliche Energie – ob
- mechanisch, wenn wir stolpern oder aus der Höhe stürzen.
- thermisch, wenn wir die Hitzeentwicklung unterschätzen.
- chemisch, wenn wir mit Lösungsmitteln arbeiten.
- elektrisch, wenn wir versehentlich mit einer ungesicherten Leitung bei der Reparatur einer defekten Maschine in Berührung kommen.
Mehr tödliche Unfälle unter älteren Mitarbeitern
Dass ein solcher Gewöhnungseffekt an gefährliche Situationen und an gefährliche Energie eintritt, legen auch die Zahlen der Deutschen gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) nahe. Sie zeigen, dass Unfälle mit zunehmendem Alter nicht ab- sondern zunehmen. Die DGUV verdeutlicht dies in der Gruppe der männlichen abhängig Beschäftigten und Unternehmer (Zahlen von 2016):
- Unter den 50- 54-Jährigen gab es mit über 40 tödlichen Unfälle mehr als doppelt so viele wie in der Altersgruppe der 30- 34-Jährigen, wo sich weniger als 20 tödliche Unfälle ereigneten.
- In der Gruppe der 20- bis 24-Jährigen war die Zahl der tödlichen Unfälle mit weniger als 15 sogar noch niedriger.
- In der Gruppe älterer Beschäftigter (55 bis 59 Jahre und 60 bis 64 Jahre) blieben die Zahlen ähnlich hoch wie bei den 50- bis 54-Jährigen.
Verzerrte Wahrnehmung durch Gewohnheit – was hilft?
Die Gewohnheit verzerrt unsere Wahrnehmung so, dass das empfundene Risiko nicht mehr der Realität entspricht. Entscheidend ist deshalb, die Gewöhnung an die Gefahr nicht überhand nehmen zu lassen.
Dies ist möglich, wenn wir es schaffen, eine neue Gewohnheit zu etablieren, indem wir uns von der Routine entfernen und uns das Hier und Jetzt bewusst machen. Merken wir, dass wir in einer potenziell gefährlichen Situation unüberlegt und gedankenlos handeln, dann müssen wir uns selbst „triggern“: Wir müssen
- bewusst zum Augenblick zurückkehren
- Vorschriften bewusst befolgen
- Persönliche Schutzausrüstung (PSA) gegebenenfalls immer tragen
- Augen bei der Sache behalten
- Kopf bei der Sache behalten.
Case Study zeigt: Gewöhnungseffekt lässt sich umkehren
Wie wirksam dieses Vorgehen ist, zeigt auch die Case Study des Reifenherstellers Michelin. In Brasilien verzeichnete das Unternehmen 2013 einen plötzlichen sprunghaften Anstieg der Unfallraten. Nachforschungen ergaben, dass Mitarbeiter Vorschriften und Maßnahmen zur Prävention schlichtweg nicht mehr befolgten – mit fatalen Folgen, und das trotz der Einführung eines internen Sicherheitsinitiative, die sich insbesondere mit verhaltensbasierter Sicherheit auseinandersetzte. Denn jeder Mensch macht Fehler, besonders dann, wenn er müde ist oder in Hektik verfällt.
Von 2013 bis 2015 gelang es Michelin mit Hilfe von SafeStart, die Unfallzahlen um 68 Prozent zu reduzieren. Dies gelang durch effektives Self-Triggering der Mitarbeiter sowie durch die Schulung der Vorgesetzten, die so für die vier Zustände ihrer Mitarbeiter sensibilisiert wurden und generell wieder stärker darauf achteten, dass Schutzmaßnahmen auch umgesetzt wurden.
Wenn Sie mehr über unseren Kunden Michelin und wie es ihm gelang, mithilfe von SafeStart Unfälle und ihre Folgen zu reduzieren, erfahren wollen, können Sie sich hier die Case Study herunterladen:
(Coverbild: © Sven Böttcher | stock.adobe.com)