Je besser wir etwas können, desto seltener verletzen wir uns. Wenn wir aber zu viel Routine bekommen, dann neigen wir zu Selbstüberschätzung – mit schweren Folgen. Denn Verletzungszahlen sinken zwar mit zunehmendem Alter und Erfahrung, ihre Schwere aber steigt.
Während wir uns als kleine Kinder ständig verletzen, passiert uns das im Erwachsenenalter immer seltener. Wir richten uns ein in einer Art Sicherheitsgleichgewicht, in dem wir die wenigen Verletzungen, die wir uns immer noch zuziehen, einfach akzeptieren und glauben, „sicher genug“ zu sein. Doch das ist ein Trugschluss: Denn die Verletzungen werden zwar weniger – dafür jedoch schwerer. Und ab einem gewissen Alter steigen die Zahlen sogar wieder deutlich an: Selbstüberschätzung sorgt dafür, dass uns kritische Fehler passieren – mit schwerwiegenden Folgen. „Sicher genug“ – ein Trugschluss, den wir aufklären können.
Wie oft stoßen wir uns an, stolpern, schneiden uns versehentlich, verbrennen uns oder bleiben irgendwo hängen und kriegen einen Kratzer ab? Unzählige Male in unserem Leben. Die Mehrzahl dieser Verletzungen ziehen wir uns in unserer Kindheit zu. Wer schon einmal ein kleines Kind beim Laufen lernen beobachtet hat, weiß, wovon die Rede ist. Blaue Flecken, Kratzer und Beulen gehören zu den ersten Lebensjahren wie Schnuller, Milchfläschchen und Kuscheltier. Aber je älter wir werden, desto besser können wir laufen, die Treppen steigen, Entfernungen und Geschwindigkeiten abschätzen; wir haben gelernt, dass eine Herdplatte heiß sein kann und man sie besser nicht anfasst. Dadurch verletzen wir uns immer seltener.
Hierbei handelt es sich um eine Art von Konditionierung: Im Kindesalter erfahren wir etwa 15 bis 25 Mal pro Woche Schmerz durch Verletzungen, fünf bis zehn von ihnen hinterlassen Spuren und müssen mit einem Pflaster oder ähnlichem versorgt werden. Beinahe jedes Mal, wenn Kinder einen Fehler machen, tragen sie unangenehme Folgen davon. Kein Wunder, dass sie alles daransetzen, diese Fehler künftig zu vermeiden.
Dadurch reduzieren sich die Verletzungszahlen ziemlich schnell und ziemlich drastisch bis wir erwachsen werden: Im Erwachsenenalter verletzen wir uns nur etwa einmal pro Woche, manchmal sogar über Monate hinweg gar nicht. Von 20 Verletzungen pro Woche im Kindesalter sind wir im Erwachsenenalter nun bei 20 pro Jahr angelangt. In dieser Hinsicht haben wir uns um 5.000 Prozent verbessert! Aber sind wir deshalb schon sicher genug?
VERLETZUNGSZAHLEN LASSEN SICH AUCH BEI ERWACHSENEN VERRINGERN
Nein. Denn die gute Nachricht ist zwar, dass wir um ein Vielfaches weniger Verletzungen davontragen, je älter und erfahrener wir werden. Die schlechte aber ist, dass die wenigen dafür immer schwerer werden. Der Grund: Wir bewegen uns mit immer größerer Energie – und diese ist in der Lage, Risiken zu potenzieren und Gefahren entstehen zu lassen, wo auf den ersten Blick keine sind (siehe dazu auch „Gefahr oder menschliches Versagen?“ dieser Artikelreihe). Mein Artikel über den Zusammenhang zwischen Fertigkeiten, Reflexen, Glück und Sicherheit zeigte: Die schwersten Unfälle ereignen sich dann, wenn wir weder Augen noch Kopf bei der Sache haben. Diese beiden kritischen Fehler sind verantwortlich für die meisten Unfälle mit schwerem Ausgang. Denn wenn wir in Gedanken woanders sind oder Blick- und Bewegungsrichtung nicht übereinstimmen, dann haben wir fast keine Chance mehr, einer gefährlichen Energie reflexartig auszuweichen und so das Schlimmste zu verhindern.
Anders als im Kindesalter gibt es, je älter und erfahrener wir werden, keine derartige Konditionierung mehr. Während wir als Kleinkind ständig Schmerz infolge von Fehlern empfinden und uns dadurch schnell verbessern, stoßen wir uns als Erwachsene nicht jedes Mal an, wenn wir nicht dorthin schauen, wohin wir gehen. Wir stolpern auch nicht jedes Mal, wenn wir beim Laufen über etwas anderes nachdenken. Deshalb tritt ab einem bestimmten Alter auch kein automatischer Lerneffekt mehr ein.
Anders wäre es sicher, wenn wir jedes Mal einen kleinen Stromschlag bekämen, wenn wir in Gedanken von unserer Tätigkeit abschweifen oder nicht auf den Weg achten. Wir scheinen mit unseren durchschnittlich 20 Verletzungen pro Jahr zufrieden zu sein. Wir befinden uns nun in einer Art persönlichem Gleichgewicht aus Sicherheit, Verletzungen und Schmerz. Dabei könnten wir auch diese Zahl um weitere 50 Prozent oder mehr verringern – und das ohne großen Aufwand.
Dies ist auch notwendig: Denn die Ironie besteht darin, dass wir zwar über die Jahre immer besser werden, in dem was wir tun – egal, ob es sich um Autofahren, Tätigkeiten im Haushalt, sportliche Aktivitäten oder Arbeiten an Maschinen handelt. Denn in den ersten Jahren sinken die Verletzungszahlen dadurch auch schnell und deutlich. Aber nach einer bestimmten Zeit beobachten wir einen neuerlichen Anstieg von Unfallraten. Der Grund: Wir fühlen uns so sicher in dem, was wir machen, dass wir uns nicht mehr auf die Sache konzentrieren. Dadurch geraten wir in einen Zustand der Selbstüberschätzung. Die Routine wird zur Falle und wir machen Fehler – Kopf und Augen nicht bei der Sache – die dann zu Unfällen mit teils schwerwiegenden Folgen führen (siehe Abbildung 1).
Dieser Prozess ist nicht bewusst steuerbar. Er passiert einfach. Dies verdeutlichen auch die Zahlen der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) aus dem Jahr 2017: So steigen ab dem Alter von 45 Jahren die Unfallzahlen deutlich an – das gilt insbesondere für die tödlichen Unfälle, die sich zu 17,9 Prozent in der Alterskohorte zwischen 50 und 55 Jahren ereignen. Zum Vergleich: In der Altersgruppe der 25- bis 30-Jährigen liegt der Anteil der Unfälle mit tödlichem Ausgang bei lediglich 4,4 Prozent (siehe Abbildung 2).
SICHER GENUG?
Wir sollten also keinesfalls dem Trugschluss erliegen, schon „sicher genug“ zu sein. Wir sollten nicht glauben, dass wir uns immer seltener verletzen, je besser wir in einer Sache werden. Denn das Gegenteil ist offensichtlich der Fall: Je routinierter wir eine Tätigkeit ausführen, desto mehr laufen wir Gefahr, in einen der vier Zustände zu geraten, die wiederum kritische Fehler und in der Folge Unfälle nach sich ziehen. Sicherheitsbewusstes Verhalten zu trainieren ist daher eine lebenslange Aufgabe. Auch wenn wir etwas vermeintlich im Schlaf können – die Augen sollten wir dennoch nicht schließen, sondern sie immer bei der Sache behalten. Das lässt sich lernen und trainieren. Und dadurch können Verletzungszahlen immer weiter reduziert werden und vor allem schwere Folgen vermieden werden. Im nächsten Artikel der Paradigmenwechselreihe geht es deshalb um Techniken, wie wir bei uns selbst die richtige Reaktion auslösen, um kritische Fehler zu vermeiden.
Geben Sie sich nicht mit Ihrem Gleichgewicht aus Sicherheit, Unfällen und Schmerz zufrieden, sondern arbeiten Sie weiter daran sicherer zu werden – es wird sich lohnen!
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Laden Sie den 5. Paradigmenwechselartikel – Stagnation und Ende der Weiterentwicklung von Sicherheitsbeurteilung und Entwicklung von Fertigkeiten – als PDF herunter!